Denken Sie Jetzt
(The Big Blue Banana Transformation)
Im Zentrum unserer Entwurfsprojekte steht der Prozess. Für uns gilt: DER WEG IST DAS ZIEL.
Ausgangspunkt unseres im Frühjahr 2020 gestarteten Forschungsschwerpunkts “We design UTOPIAS OF CHANGE for the 21st century to save our earth” ist im kommenden Sommersemester Stefano Mancusos und Alessandra Violas Buch „DIE INTELLIGENZ DER PFLANZEN“. Sie sind die Pioniere der Erde und machen den Blauen Planeten zur grünen Insel im Weltall. Die faszinierende, verblüffende Geschichte der größten Gruppe von »Lebewesen«, die wir als solche gar nicht wahrnehmen und (noch) nicht hinreichend wertschätzen. Am weitesten verbreitet auf unserem Planeten sind nicht Menschen, sondern Pflanzen, deren Intelligenz uns das Leben und Überleben überhaupt ermöglicht. Sie verwandeln Wüsten in blühende Kontinente, sie breiten sich auch in den entlegensten Gegenden der Welt aus, ihr Lebenswille ist unbezwinglich. Sie sind der Inbegriff natürlicher Schönheit und empfindungsfähiger als Tiere. Pflanzen tauschen sich untereinander aus, sie kommunizieren und sind soziale Wesen.
Ohne die Pflanzen, die uns mit Nahrung, Energie und Sauerstoff versorgen, könnten wir Menschen auf der Erde nicht einmal [wenige] Wochen überleben. Merkwürdig eigentlich, dass sie trotzdem lange als Lebewesen niederer Ordnung galten, knapp oberhalb der unbelebten Welt. Erst seit kurzem erkennt die Forschung, was schon Darwin vermutete: dass Pflanzen trotz ihrer (scheinbaren) Unbeweglichkeit über stupende [erstaunliche] Fähigkeiten verfügen, ja über Intelligenz. Denn außer den fünf Sinnen des Menschen besitzen sie noch mindestens 15 weitere, mit denen sie nicht nur elektromagnetische Felder erspüren und die Schwerkraft berechnen, sondern zahlreiche chemische Stoffe ihrer Umwelt analysieren können. Mit Duftstoffen warnen sie sich vor Fressfeinden oder locken Tiere an, die sie davon [von den Fressfeinden] befreien; über die Wurzeln bilden sie riesige Netzwerke, in denen Informationen über den Zustand der Umwelt zirkulieren. Ohne Organe können sie so über eine Form von Schwarmintelligenz Strategien entwickeln, die ihr Überleben sichern.
Von wegen »vegetieren«! Ein besseres Verständnis der Intelligenz der Pflanzen könnte uns lehren [unsere Kommunikation effektiver zu gestalten und darüber hinaus zugleich effizient, konsistent, resilient und suffizient zu handeln]. Anschaulich und voller Leidenschaft eröffnen uns der bedeutende Pflanzenforscher Stefano Mancuso und die renommierte Wissenschaftsjournalistin Alessandra Viola in ihrem Buch eine [uns] unbekannte Welt.¹
Pflanzen werden in der modernen Architektur nicht als Lebewesen betrachtet und demzufolge in den Entwurf und die Planung nicht wertschätzend mit einbezogen- sie werden heute wie vor 100 Jahren rein aus der Perspektive des direkten Nutzens für den Menschen “verwendet”. In diesem Sinne liefern Pflanzen unserer Spezies vor allem Nahrung und Rohstoffe, darüber hinaus schützen sie uns vor Überschwemmungen, Erdrutschen, Lawinen und Feinstaub, produzieren Sauerstoff, speichern Wasser und CO2. Pflanzen sind mitverantwortlich für das Weltklima und schaffen ein angenehmes Mikroklima, bilden eine atmosphärisch positive Umgebung zur Freizeitgestaltung, Unterhaltung und Kontemplation, und sie sind sowohl im Außen- als auch im Innenraum von ästhetischem Wert. Der Mensch steht dabei stets im Mittelpunkt. Die Auswirkungen dieser humanzentrierten Sichtweise führen auf unserer Erde dann folgerichtig in die von Paul J. Crutzen eingeführte Bezeichnung dafür – das Anthropozän. Die Architektur hat einen wesentlichen Anteil hierzu beigetragen und auch für sie war es bislang unerheblich, ob Pflanzen intelligent sind, kommunizieren oder fühlen. Im Menschenzeitalter ist dazu kein Platz – Konzepte, Entwürfe und Realisierungen von Habitaten für alle Lebewesen gibt es derzeit keine. Mehr noch, wir sind ahnungslos, wie diese aussehen und funktionieren könnten.
Daran ändert auch nichts, dass Land und Landschaft seit einiger Zeit ganz groß in Mode stehen und sich der reaktionäre Hype zur Freude der Immobilien- und Baubranche mit der Corona-Pandemie um den ganzen Globus zu spülen scheint. Ganz im Gegenteil, dieser Trend zwischen Neoromantik und Neoliberalismus bewirkt eine nochmalige Zuspitzung der geo-sozialen Krise. Verhältnismäßig kostengünstiges Bauland fernab von den Zentren, niedrige Energiepreise, aber vor allem außerhalb der Aufmerksamkeitsradien einer immer achtsamer werdenden Zivilbevölkerung, lässt schnelle Planungs- und Bauprozesse ohne störende Bürgerbeteiligungsverfahren, Umweltverträglichkeitsprüfungen und Gestaltungsbeiräte erwarten. Zu befürchten ist demnach, dass mitten in der Umweltkrise nicht nur suburbane Einfamilienhaussiedlungen und Tiny Houses in Naturlandschaften entstehen, sondern auch riesige Industrie- und Gewerbezonen für durch künstliche Intelligenz gesteuerte Roboter zur Produktion von pflanzlichen, tierischen und anderen Konsumgütern zur Umsatz- und Gewinnmaximierung der Konzerne gebaut werden. Fürs Ego aller Beteiligten werden diese endlos großen Hallen ohne Leben durch die Kulturindustrie gefeiert. Für das gute Gewissen der Reichen und Schönen gibt es professionelles Greenwashing und zur Belustigung für das Volk, Brot und Spiele an den Tagen der offenen Tür. Weiter entfernt von einem Beitrag zur Great Transformation können Architektinnen und Architekten nicht mehr stehen.
Doch wo und wie könnte diese große Transformation ihren Ausgangspunkt finden?
Unser Standort Stuttgart befindet sich im größten Städteband Europas – der sogenannten Blauen Banane. Welche Bezeichnung könnte für diesen von einer Gruppe um den französischen Wirtschaftsgeographen Roger Brunet beschriebenen Großraum besser passen, als die Banane, das Sinnbild des westlichen Wohlstands und der Globalisierung? Könnten wir vielleicht zusätzlich behaupten, dass die Farbe Blau auf den Blauen Reiter² und den Expressionismus und somit auf die Moderne verweist? In den Sinn kommt dabei auch die Banane von Andy Warhol am Plattencover von Velvet Underground & Nico. The Factory³ lässt grüßen.
Genannt wurde die Blue Banana erstmals 1988, knapp vor dem Mauerfall, als der global höchst verdichtete Siedlungs-, Verkehrs- und Wirtschaftsraum mit mehr als 100 Millionen Einwohner*innen. Seit über 40 Jahren steht die Blaue Banane für die anthropogene Weltsicht der neoliberalen Wachstumsgesellschaft. Sie erstreckt sich von den alten Industriezentren in Großbritannien über die Ballungsräume in der Benelux-Region, des Rhein-Ruhr-Main-Gebiets und des Schweizer Zentralraums bis in die Metropolregionen in Norditalien. Diese europäische Megalopolis erreicht aufgrund ihrer Verdichtung von Bevölkerung, Wirtschaft, Wissen und Kultur, Kapital, Medien, Verkehr, Siedlung und Infrastruktur einen hohen Grad an Zentralität und Dynamik. Ihren historischen Ursprung hat sie allerdings in natürlichen Ressourcen und deren Vernetzung durch Handelswege vom Mittelmeer über die Alpen und den Rhein zur Nordsee.
Die Wirtschaftsgeographie beschreibt und erklärt Wirtschaftsräume, wie die der Blauen Banane, nach deren ökonomischen Strukturen, sowie den Prozessen und Funktionsweisen, die diese erzeugen. Der Wechselwirkung des wirtschaftenden Menschen mit seiner natürlichen Umwelt gilt dabei mehr und mehr ein besonderes Interesse. Für uns stellt sich die Frage, wie wir solche Räume von einem ökosozialen Standpunkt aus neu denken und gestalten können? Welche Beispiele finden wir dazu und wie müssten diese im Hinblick auf eine nachhaltige Gestaltung der Critical Zones⁴ unserer Erde weiterentwickelt werden?
Wir wollen in diesem Semester – inspiriert von unserer Leitliteratur „DIE INTELLIGENZ DER PFLANZEN“ – eine ökologische, soziale, kulturelle und transnationale Vernetzung von Räumen in Europa entwerfen. Wir nennen diese terrestrische Utopie für alle Lebewesen THE BIG BLUE BANANA TRANSFORMATION.
Utopien der Veränderung
We design UTOPIAS OF CHANGE for the 21st century to save our earth. Das Verleugnen der Explosion der Ungleichheiten und der Klimasituation sind ein und dasselbe Phänomen⁵. CHANGE! Mit diesem Appell baut Graeme Maxton eine Brücke in die nahe Zukunft und erklärt in erschreckend eindringlichen Worten WARUM WIR JETZT EINE RADIKALE WENDE BRAUCHEN. Der ehemalige Generalsekretär des Club of Rome⁶ stellt die Frage, was wir jetzt tun müssen, damit unsere Kinder und Enkelkinder und wir selbst weiterhin noch gut auf dieser Erde leben können. Was kann jede*r Einzelne von uns beitragen, um eine Wende zu ermöglichen und für eine nachhaltige Welt zu sorgen? Seine Antwort ist leider, nicht viel. Vegan zu leben, Flaschen und Plastik zum Recycling zu bringen, kein eigenes Auto mehr zu haben, den Zug zu nehmen statt des Flugzeugs und Energie zu sparen, wann und wo immer das möglich ist – all das ist natürlich hilfreich. Aber am aktuellen Schicksal der Menschheit wird sich nichts ändern, sofern nicht radikale Umstellungen in einem viel Größerem Ausmaß erfolgen.⁷
DIE PARTY IST VORBEI! Wir stehen am Wendepunkt des 21. Jahrhunderts. Hier entscheidet sich unsere Zukunft. Kein Hollywood Held wird uns retten. WIR müssen handeln. JETZT!⁸ Was können wir als Architektinnen und Architekten zu dieser Wende beitragen? Re- und Upcycling, Passivhausstandard, Solarthermie, Windenergie, Biofotosynthese, begrünte Dächer und Fassaden, die Verwendung von natürlichen, erneuerbaren und regionalen Ressourcen und Materialien wie Holz und Lehm u.dgl., auch in Verbindung mit computergestützten Fertigungsmethoden, Organisationsformen wie Mitbestimmung, Baugruppen, Bausyndikate oder Baugenossenschaften sind erste Schritte, aber leider zu wenig, um das Leben auf der Erde zu retten.
Die gegenwärtig meist marktwirtschaftlich besetzte Entwicklungshilfe u. a. mit Infrastruktur-und Siedlungsprogrammen im „Armen Globalen Süden“ ist dabei ähnlich umweltzerstörerisch, wie beinahe alle aktuellen Raumplanungs-, Stadterweiterungs- und Bauprojekte des „Reichen Globalen Nordens“. Nicht nur die Volkswirtschaftslehre gehört grundlegend reformiert, sondern auch unsere Disziplin, die Architektur. Wir müssen radikal umdenken und wir müssen dringend handeln.
Im Sommersemester 2020 starteten wir JETZT und GEMEINSAM mit unserem Entwurf „DENKEN SIE GROSS“, es folgte im Wintersemester 2020/2021 „denken sie klein“ und im aktuellen Sommersemester 2021 setzen wir mit „Denken Sie Jetzt“ die Reihe der „UTOPIAS OF CHANGE“ fort.
In den Lehrveranstaltungen schauen wir jeweils auf unterschiedliche Aspekte der Utopien der Moderne des 20. Jahrhunderts, auf die Sozialutopisten Anfang des 19. Jahrhunderts und noch viel weiter zurück, bis in die griechische Antike zu Homer und seinen Mythos über Daidalos und Ikaros. Nicht der Erfinder Daidalos, sondern der trotz Warnungen und aufgrund von maßloser Selbstüberschätzung an seinem Übermut verstorbene Ikaros wurde zum Helden hochstilisiert. Wohl eine der großen folgenschweren Umdeutungen der Moderne, dessen negative Auswirkungen allesamt auf eine fehlende Achtsamkeit zurückzuführen und am gegenwärtigen Zustand des Habitats Erde abzulesen sind.
Schneller, höher, stärker – die überkommenen Tugenden der modernen Leistungsgesellschaft werden bei uns außer Kraft gesetzt. Wir werden in unserem Studio dem freien Forschen und Experimentieren möglichst unbegrenzten Raum geben.
Wir beschäftigen uns intensiv mit zeitgemäßen philosophischen Werken und mit dem Stand der Forschung in den Geistes-, Natur-, Technologie-, Sozial-, Rechts-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften. Wir werden lesen, schreiben und diskutieren, untereinander und mit interessanten Gästen aus dem In-und Ausland, via Onlinekonferenzen und in den Ateliers, und wir werden all das dokumentieren und kommunizieren, mit alten und mit neuen Medien UND WIR WERDEN ENTWERFEN. Im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen dabei die hohe Relevanz und die Möglichkeiten der audiovisuellen Medien. Wir werden nachmoderne UTOPIEN skizzieren, die erste architektonische Antworten auf die neue geo-soziale Frage des 21. Jahrhundert geben sollen. Dabei orientieren wir uns an zukunftsweisenden Gesellschaftsmodellen und hinterfragen kritisch überkommene Unterscheidungen wie links und rechts, fortschrittlich und reaktionär, global und lokal.
Auf Basis unserer Recherchen sollen Schritt für Schritt während des gesamten Semesters IDEEN ZU PERSÖNLICHEN ARCHITEKTURVISIONEN in unterschiedlichsten Dimensionen und Maßstäben über das Teilen einer gemeinsamen, ökologisch stabilen Erde entstehen, die die modernistische Trennung in Natur-, Agrar- und Siedlungsräume überwinden. Im Zentrum unserer Arbeit steht der Prozess – der Weg ist für uns das Ziel.
¹ Stefano Mancuso und Alessandra Viola, Die Intelligenz der Pflanzen (offizielle Kurzbeschreibungen des Buches lt. Kunstmann Verlag), 2015
² Der Blaue Reiter ist eine innovative, am Anfang des 20. Jahrhunderts in Bayern formierte, Kunstbewegung, die der Moderne in Deutschland den Weg bereitete. Einige junge Künstler, darunter Franz Marc, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, August Macke und Paul Klee, vereinte in jener Zeit der Wunsch nach Erneuerung der Kunst. Die Gruppe kritisierte den herrschenden Kunst-Kanon als zu akademisch und elitär und forderte mehr Offenheit und Vielfalt. In ihrer Formensprache verabschiedeten sich die Künstler vom Realismus und malten expressiv in kräftigen Farbtönen und zunehmend abstrakt. (Vgl.: https://www.kunst-zeiten.de/Der_Blaue_Reiter; Zugriff: 30.01.2021)
³ The Factory (dt. „Die Fabrik“), zeitweise auch Silver Factory genannt, waren verschiedene Studios des Pop-Art-Künstlers Andy Warhol in New York City. Warhol zielte mit der Wortwahl für seine Ateliers anfangs sowohl auf die alten Fabrikgebäude ab, in welchen sich die ersten beiden „Factories“ befanden, als auch auf die Art und Weise, wie er seine Kunst „produzierte“. (https://de.wikipedia.org/wiki/The_Factory_(Studio); Zugriff: 30.01.2021)
⁴ »Critical Zones – Horizonte einer neuen Erdpolitik« ist eine Ausstellung des ZKM in Karlsruhe. Die Ausstellung ist ein Modell einer neu verstandenen Räumlichkeit der Erde und arbeitet die Vielfalt der Beziehungen zwischen den darin vorhandenen Lebensformen heraus. Künstler, Wissenschaftler, Philosophen und Schriftsteller betrachten bei der von Bruno Latour und Peter Weibel kuratierten Ausstellung, die Erde als ein Netzwerk von »Critical Zones«.
⁵ Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, 2018
⁶ Der Club of Rome ist ein Zusammenschluss von Experten verschiedener Disziplinen aus mehr als 30 Ländern und wurde 1968 gegründet. Die gemeinnützige Organisation setzt sich für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit ein. Mit dem 1972 veröffentlichten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ erlangte er große weltweite Beachtung. Seitdem kämpft der Club of Rome für nachhaltige Entwicklung und setzt sich für den Schutz von Ökosystemen ein. (https://de.wikipedia.org/wiki/Club_of_Rome, 13.01.2020)
⁷ Graeme Maxton, CHANGE! Warum wir eine radikale Wende brauchen, 2018
⁸ ebd.
Denken Sie Jetzt
(The Big Blue Banana Transformation)
Im Zentrum unserer Entwurfsprojekte steht der Prozess. Für uns gilt: DER WEG IST DAS ZIEL.
Ausgangspunkt unseres im Frühjahr 2020 gestarteten Forschungsschwerpunkts “We design UTOPIAS OF CHANGE for the 21st century to save our earth” ist im kommenden Sommersemester Stefano Mancusos und Alessandra Violas Buch „DIE INTELLIGENZ DER PFLANZEN“. Sie sind die Pioniere der Erde und machen den Blauen Planeten zur grünen Insel im Weltall. Die faszinierende, verblüffende Geschichte der größten Gruppe von »Lebewesen«, die wir als solche gar nicht wahrnehmen und (noch) nicht hinreichend wertschätzen. Am weitesten verbreitet auf unserem Planeten sind nicht Menschen, sondern Pflanzen, deren Intelligenz uns das Leben und Überleben überhaupt ermöglicht. Sie verwandeln Wüsten in blühende Kontinente, sie breiten sich auch in den entlegensten Gegenden der Welt aus, ihr Lebenswille ist unbezwinglich. Sie sind der Inbegriff natürlicher Schönheit und empfindungsfähiger als Tiere. Pflanzen tauschen sich untereinander aus, sie kommunizieren und sind soziale Wesen.
Ohne die Pflanzen, die uns mit Nahrung, Energie und Sauerstoff versorgen, könnten wir Menschen auf der Erde nicht einmal [wenige] Wochen überleben. Merkwürdig eigentlich, dass sie trotzdem lange als Lebewesen niederer Ordnung galten, knapp oberhalb der unbelebten Welt. Erst seit kurzem erkennt die Forschung, was schon Darwin vermutete: dass Pflanzen trotz ihrer (scheinbaren) Unbeweglichkeit über stupende [erstaunliche] Fähigkeiten verfügen, ja über Intelligenz. Denn außer den fünf Sinnen des Menschen besitzen sie noch mindestens 15 weitere, mit denen sie nicht nur elektromagnetische Felder erspüren und die Schwerkraft berechnen, sondern zahlreiche chemische Stoffe ihrer Umwelt analysieren können. Mit Duftstoffen warnen sie sich vor Fressfeinden oder locken Tiere an, die sie davon [von den Fressfeinden] befreien; über die Wurzeln bilden sie riesige Netzwerke, in denen Informationen über den Zustand der Umwelt zirkulieren. Ohne Organe können sie so über eine Form von Schwarmintelligenz Strategien entwickeln, die ihr Überleben sichern.
Von wegen »vegetieren«! Ein besseres Verständnis der Intelligenz der Pflanzen könnte uns lehren [unsere Kommunikation effektiver zu gestalten und darüber hinaus zugleich effizient, konsistent, resilient und suffizient zu handeln]. Anschaulich und voller Leidenschaft eröffnen uns der bedeutende Pflanzenforscher Stefano Mancuso und die renommierte Wissenschaftsjournalistin Alessandra Viola in ihrem Buch eine [uns] unbekannte Welt.¹
Pflanzen werden in der modernen Architektur nicht als Lebewesen betrachtet und demzufolge in den Entwurf und die Planung nicht wertschätzend mit einbezogen- sie werden heute wie vor 100 Jahren rein aus der Perspektive des direkten Nutzens für den Menschen “verwendet”. In diesem Sinne liefern Pflanzen unserer Spezies vor allem Nahrung und Rohstoffe, darüber hinaus schützen sie uns vor Überschwemmungen, Erdrutschen, Lawinen und Feinstaub, produzieren Sauerstoff, speichern Wasser und CO2. Pflanzen sind mitverantwortlich für das Weltklima und schaffen ein angenehmes Mikroklima, bilden eine atmosphärisch positive Umgebung zur Freizeitgestaltung, Unterhaltung und Kontemplation, und sie sind sowohl im Außen- als auch im Innenraum von ästhetischem Wert. Der Mensch steht dabei stets im Mittelpunkt. Die Auswirkungen dieser humanzentrierten Sichtweise führen auf unserer Erde dann folgerichtig in die von Paul J. Crutzen eingeführte Bezeichnung dafür – das Anthropozän. Die Architektur hat einen wesentlichen Anteil hierzu beigetragen und auch für sie war es bislang unerheblich, ob Pflanzen intelligent sind, kommunizieren oder fühlen. Im Menschenzeitalter ist dazu kein Platz – Konzepte, Entwürfe und Realisierungen von Habitaten für alle Lebewesen gibt es derzeit keine. Mehr noch, wir sind ahnungslos, wie diese aussehen und funktionieren könnten.
Daran ändert auch nichts, dass Land und Landschaft seit einiger Zeit ganz groß in Mode stehen und sich der reaktionäre Hype zur Freude der Immobilien- und Baubranche mit der Corona-Pandemie um den ganzen Globus zu spülen scheint. Ganz im Gegenteil, dieser Trend zwischen Neoromantik und Neoliberalismus bewirkt eine nochmalige Zuspitzung der geo-sozialen Krise. Verhältnismäßig kostengünstiges Bauland fernab von den Zentren, niedrige Energiepreise, aber vor allem außerhalb der Aufmerksamkeitsradien einer immer achtsamer werdenden Zivilbevölkerung, lässt schnelle Planungs- und Bauprozesse ohne störende Bürgerbeteiligungsverfahren, Umweltverträglichkeitsprüfungen und Gestaltungsbeiräte erwarten. Zu befürchten ist demnach, dass mitten in der Umweltkrise nicht nur suburbane Einfamilienhaussiedlungen und Tiny Houses in Naturlandschaften entstehen, sondern auch riesige Industrie- und Gewerbezonen für durch künstliche Intelligenz gesteuerte Roboter zur Produktion von pflanzlichen, tierischen und anderen Konsumgütern zur Umsatz- und Gewinnmaximierung der Konzerne gebaut werden. Fürs Ego aller Beteiligten werden diese endlos großen Hallen ohne Leben durch die Kulturindustrie gefeiert. Für das gute Gewissen der Reichen und Schönen gibt es professionelles Greenwashing und zur Belustigung für das Volk, Brot und Spiele an den Tagen der offenen Tür. Weiter entfernt von einem Beitrag zur Great Transformation können Architektinnen und Architekten nicht mehr stehen.
Doch wo und wie könnte diese große Transformation ihren Ausgangspunkt finden?
Unser Standort Stuttgart befindet sich im größten Städteband Europas – der sogenannten Blauen Banane. Welche Bezeichnung könnte für diesen von einer Gruppe um den französischen Wirtschaftsgeographen Roger Brunet beschriebenen Großraum besser passen, als die Banane, das Sinnbild des westlichen Wohlstands und der Globalisierung? Könnten wir vielleicht zusätzlich behaupten, dass die Farbe Blau auf den Blauen Reiter² und den Expressionismus und somit auf die Moderne verweist? In den Sinn kommt dabei auch die Banane von Andy Warhol am Plattencover von Velvet Underground & Nico. The Factory³ lässt grüßen.
Genannt wurde die Blue Banana erstmals 1988, knapp vor dem Mauerfall, als der global höchst verdichtete Siedlungs-, Verkehrs- und Wirtschaftsraum mit mehr als 100 Millionen Einwohner*innen. Seit über 40 Jahren steht die Blaue Banane für die anthropogene Weltsicht der neoliberalen Wachstumsgesellschaft. Sie erstreckt sich von den alten Industriezentren in Großbritannien über die Ballungsräume in der Benelux-Region, des Rhein-Ruhr-Main-Gebiets und des Schweizer Zentralraums bis in die Metropolregionen in Norditalien. Diese europäische Megalopolis erreicht aufgrund ihrer Verdichtung von Bevölkerung, Wirtschaft, Wissen und Kultur, Kapital, Medien, Verkehr, Siedlung und Infrastruktur einen hohen Grad an Zentralität und Dynamik. Ihren historischen Ursprung hat sie allerdings in natürlichen Ressourcen und deren Vernetzung durch Handelswege vom Mittelmeer über die Alpen und den Rhein zur Nordsee.
Die Wirtschaftsgeographie beschreibt und erklärt Wirtschaftsräume, wie die der Blauen Banane, nach deren ökonomischen Strukturen, sowie den Prozessen und Funktionsweisen, die diese erzeugen. Der Wechselwirkung des wirtschaftenden Menschen mit seiner natürlichen Umwelt gilt dabei mehr und mehr ein besonderes Interesse. Für uns stellt sich die Frage, wie wir solche Räume von einem ökosozialen Standpunkt aus neu denken und gestalten können? Welche Beispiele finden wir dazu und wie müssten diese im Hinblick auf eine nachhaltige Gestaltung der Critical Zones⁴ unserer Erde weiterentwickelt werden?
Wir wollen in diesem Semester – inspiriert von unserer Leitliteratur „DIE INTELLIGENZ DER PFLANZEN“ – eine ökologische, soziale, kulturelle und transnationale Vernetzung von Räumen in Europa entwerfen. Wir nennen diese terrestrische Utopie für alle Lebewesen THE BIG BLUE BANANA TRANSFORMATION.
Utopien der Veränderung
We design UTOPIAS OF CHANGE for the 21st century to save our earth. Das Verleugnen der Explosion der Ungleichheiten und der Klimasituation sind ein und dasselbe Phänomen⁵. CHANGE! Mit diesem Appell baut Graeme Maxton eine Brücke in die nahe Zukunft und erklärt in erschreckend eindringlichen Worten WARUM WIR JETZT EINE RADIKALE WENDE BRAUCHEN. Der ehemalige Generalsekretär des Club of Rome⁶ stellt die Frage, was wir jetzt tun müssen, damit unsere Kinder und Enkelkinder und wir selbst weiterhin noch gut auf dieser Erde leben können. Was kann jede*r Einzelne von uns beitragen, um eine Wende zu ermöglichen und für eine nachhaltige Welt zu sorgen? Seine Antwort ist leider, nicht viel. Vegan zu leben, Flaschen und Plastik zum Recycling zu bringen, kein eigenes Auto mehr zu haben, den Zug zu nehmen statt des Flugzeugs und Energie zu sparen, wann und wo immer das möglich ist – all das ist natürlich hilfreich. Aber am aktuellen Schicksal der Menschheit wird sich nichts ändern, sofern nicht radikale Umstellungen in einem viel Größerem Ausmaß erfolgen.⁷
DIE PARTY IST VORBEI! Wir stehen am Wendepunkt des 21. Jahrhunderts. Hier entscheidet sich unsere Zukunft. Kein Hollywood Held wird uns retten. WIR müssen handeln. JETZT!⁸ Was können wir als Architektinnen und Architekten zu dieser Wende beitragen? Re- und Upcycling, Passivhausstandard, Solarthermie, Windenergie, Biofotosynthese, begrünte Dächer und Fassaden, die Verwendung von natürlichen, erneuerbaren und regionalen Ressourcen und Materialien wie Holz und Lehm u.dgl., auch in Verbindung mit computergestützten Fertigungsmethoden, Organisationsformen wie Mitbestimmung, Baugruppen, Bausyndikate oder Baugenossenschaften sind erste Schritte, aber leider zu wenig, um das Leben auf der Erde zu retten.
Die gegenwärtig meist marktwirtschaftlich besetzte Entwicklungshilfe u. a. mit Infrastruktur-und Siedlungsprogrammen im „Armen Globalen Süden“ ist dabei ähnlich umweltzerstörerisch, wie beinahe alle aktuellen Raumplanungs-, Stadterweiterungs- und Bauprojekte des „Reichen Globalen Nordens“. Nicht nur die Volkswirtschaftslehre gehört grundlegend reformiert, sondern auch unsere Disziplin, die Architektur. Wir müssen radikal umdenken und wir müssen dringend handeln.
Im Sommersemester 2020 starteten wir JETZT und GEMEINSAM mit unserem Entwurf „DENKEN SIE GROSS“, es folgte im Wintersemester 2020/2021 „denken sie klein“ und im aktuellen Sommersemester 2021 setzen wir mit „Denken Sie Jetzt“ die Reihe der „UTOPIAS OF CHANGE“ fort.
In den Lehrveranstaltungen schauen wir jeweils auf unterschiedliche Aspekte der Utopien der Moderne des 20. Jahrhunderts, auf die Sozialutopisten Anfang des 19. Jahrhunderts und noch viel weiter zurück, bis in die griechische Antike zu Homer und seinen Mythos über Daidalos und Ikaros. Nicht der Erfinder Daidalos, sondern der trotz Warnungen und aufgrund von maßloser Selbstüberschätzung an seinem Übermut verstorbene Ikaros wurde zum Helden hochstilisiert. Wohl eine der großen folgenschweren Umdeutungen der Moderne, dessen negative Auswirkungen allesamt auf eine fehlende Achtsamkeit zurückzuführen und am gegenwärtigen Zustand des Habitats Erde abzulesen sind.
Schneller, höher, stärker – die überkommenen Tugenden der modernen Leistungsgesellschaft werden bei uns außer Kraft gesetzt. Wir werden in unserem Studio dem freien Forschen und Experimentieren möglichst unbegrenzten Raum geben.
Wir beschäftigen uns intensiv mit zeitgemäßen philosophischen Werken und mit dem Stand der Forschung in den Geistes-, Natur-, Technologie-, Sozial-, Rechts-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften. Wir werden lesen, schreiben und diskutieren, untereinander und mit interessanten Gästen aus dem In-und Ausland, via Onlinekonferenzen und in den Ateliers, und wir werden all das dokumentieren und kommunizieren, mit alten und mit neuen Medien UND WIR WERDEN ENTWERFEN. Im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen dabei die hohe Relevanz und die Möglichkeiten der audiovisuellen Medien. Wir werden nachmoderne UTOPIEN skizzieren, die erste architektonische Antworten auf die neue geo-soziale Frage des 21. Jahrhundert geben sollen. Dabei orientieren wir uns an zukunftsweisenden Gesellschaftsmodellen und hinterfragen kritisch überkommene Unterscheidungen wie links und rechts, fortschrittlich und reaktionär, global und lokal.
Auf Basis unserer Recherchen sollen Schritt für Schritt während des gesamten Semesters IDEEN ZU PERSÖNLICHEN ARCHITEKTURVISIONEN in unterschiedlichsten Dimensionen und Maßstäben über das Teilen einer gemeinsamen, ökologisch stabilen Erde entstehen, die die modernistische Trennung in Natur-, Agrar- und Siedlungsräume überwinden. Im Zentrum unserer Arbeit steht der Prozess – der Weg ist für uns das Ziel.
¹ Stefano Mancuso und Alessandra Viola, Die Intelligenz der Pflanzen (offizielle Kurzbeschreibungen des Buches lt. Kunstmann Verlag), 2015
² Der Blaue Reiter ist eine innovative, am Anfang des 20. Jahrhunderts in Bayern formierte, Kunstbewegung, die der Moderne in Deutschland den Weg bereitete. Einige junge Künstler, darunter Franz Marc, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, August Macke und Paul Klee, vereinte in jener Zeit der Wunsch nach Erneuerung der Kunst. Die Gruppe kritisierte den herrschenden Kunst-Kanon als zu akademisch und elitär und forderte mehr Offenheit und Vielfalt. In ihrer Formensprache verabschiedeten sich die Künstler vom Realismus und malten expressiv in kräftigen Farbtönen und zunehmend abstrakt. (Vgl.: https://www.kunst-zeiten.de/Der_Blaue_Reiter; Zugriff: 30.01.2021)
³ The Factory (dt. „Die Fabrik“), zeitweise auch Silver Factory genannt, waren verschiedene Studios des Pop-Art-Künstlers Andy Warhol in New York City. Warhol zielte mit der Wortwahl für seine Ateliers anfangs sowohl auf die alten Fabrikgebäude ab, in welchen sich die ersten beiden „Factories“ befanden, als auch auf die Art und Weise, wie er seine Kunst „produzierte“. (https://de.wikipedia.org/wiki/The_Factory_(Studio); Zugriff: 30.01.2021)
⁴ »Critical Zones – Horizonte einer neuen Erdpolitik« ist eine Ausstellung des ZKM in Karlsruhe. Die Ausstellung ist ein Modell einer neu verstandenen Räumlichkeit der Erde und arbeitet die Vielfalt der Beziehungen zwischen den darin vorhandenen Lebensformen heraus. Künstler, Wissenschaftler, Philosophen und Schriftsteller betrachten bei der von Bruno Latour und Peter Weibel kuratierten Ausstellung, die Erde als ein Netzwerk von »Critical Zones«.
⁵ Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, 2018
⁶ Der Club of Rome ist ein Zusammenschluss von Experten verschiedener Disziplinen aus mehr als 30 Ländern und wurde 1968 gegründet. Die gemeinnützige Organisation setzt sich für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit ein. Mit dem 1972 veröffentlichten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ erlangte er große weltweite Beachtung. Seitdem kämpft der Club of Rome für nachhaltige Entwicklung und setzt sich für den Schutz von Ökosystemen ein. (https://de.wikipedia.org/wiki/Club_of_Rome, 13.01.2020)
⁷ Graeme Maxton, CHANGE! Warum wir eine radikale Wende brauchen, 2018
⁸ ebd.